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Gewindebohrer vs. Gewindeformer - Vor- und Nachteile beider Systeme

1 - Gewindebohrer - Das spanende Verfahren

- Funktionsprinzip und Aufbau

Gewindebohrer sind spanende Werkzeuge, die durch eine schraubende Bewegung Material abtragen und dabei die Gewindekontur in das Werkstück schneiden. Der klassische Gewindebohrer besteht aus einem zylindrischen Grundkörper mit spiralförmig angeordneten Schneidkanten, die das Gewinde durch Zerspanung erzeugen.

Konstruktive Merkmale:

Der Anschnitt bildet den vorderen Bereich des Gewindebohrers und bestimmt maßgeblich das Schnittverhalten. Je nach Anschnittlänge unterscheidet man zwischen verschiedenen Typen: Kurzer Anschnitt (2-3 Gänge) für durchgehende Bohrungen, mittlerer Anschnitt (4-5 Gänge) für Universalanwendungen und langer Anschnitt (6-8 Gänge) für Grundlöcher.

Die Spanräume zwischen den Schneidkanten nehmen die entstehenden Späne auf und transportieren sie ab. Ihre Gestaltung beeinflusst entscheidend die Spanabfuhr und damit die Prozesssicherheit.

Der Führungsteil (Kalibrierbereich) stellt die Maßhaltigkeit und Führung im bereits geschnittenen Gewinde sicher. Er umfasst typischerweise 3-4 vollständige Gewindegänge.

- Werkzeuggeometrie und Schneidstoffauswahl

- Spanwinkel und Freiwinkel:

Die Spanwinkel liegen je nach Anwendung zwischen 8° und 15°. Größere Spanwinkel reduzieren die Schnittkräfte, können aber die Schneidkantenstabilität beeinträchtigen. Der Freiwinkel beträgt meist 6-12° und verhindert das Reiben der Freiflächen.

- Schneidstoffauswahl:

  • HSS (High Speed Steel): Standard für die meisten Anwendungen, gute Zähigkeit

  • HSS-E (kobaltlegiert): Für schwer zerspanbare Werkstoffe und höhere Schnittgeschwindigkeiten

  • HSS-PM (pulvermetallurgisch): Höchste Verschleißfestigkeit für anspruchsvolle Anwendungen

  • Hartmetall: Für sehr hohe Schnittgeschwindigkeiten, hauptsächlich in der Serienfertigung

- Anwendungsgebiete und Werkstoffe

Gewindebohrer eignen sich für praktisch alle metallischen Werkstoffe:

  • Stahl: Von weichen Baustählen bis zu hochfesten Vergütungsstählen. Bei höherfesten Stählen sind spezielle HSS-E-Qualitäten oder beschichtete Werkzeuge erforderlich.
  • Rostfreie Stähle: Erfordern aufgrund ihrer Neigung zum Kaltverfestigen besondere Aufmerksamkeit. Scharfe Schneiden und kontinuierlicher Vorschub sind essentiell.
  • Gusswerkstoffe: Grauguss lässt sich gut bohren, während Gusseisen mit Kugelgraphit höhere Anforderungen an die Werkzeugqualität stellt.
  • Nichteisen-Metalle: Aluminium, Kupfer und deren Legierungen sind meist gut bohrbar, erfordern aber angepasste Geometrien zur Vermeidung von Aufbauschneiden.

- Prozessparameter und Kühlschmierung

Schnittgeschwindigkeit: Die optimale Schnittgeschwindigkeit hängt stark vom Werkstoff ab. Für Stahl liegen typische Werte zwischen 5-25 m/min, für Aluminium deutlich höher bei 50-150 m/min.

Kühlschmierung: Eine effektive Kühlschmierung ist beim Gewindebohren essentiell. Sie erfüllt mehrere Funktionen: Kühlung der Schneidkanten, Schmierung zur Reibungsreduzierung und Spülung der Späne aus den Spanräumen. Wasserlösliche KSS eignen sich für die meisten Anwendungen, während bei problematischen Werkstoffen hochwertige Schneidöle bessere Ergebnisse liefern.- 

2 - Gewindeformer - Das spanlose Verfahren

- Funktionsprinzip und Aufbau

Gewindeformer erzeugen Gewinde durch plastische Verformung des Werkstoffs ohne Spanbildung. Das Werkzeug drückt das Material zur Seite und formt dabei die Gewindekontur. Dieser Prozess erfordert ausreichende Duktilität des Werkstoffs und präzise abgestimmte Kernlochbohrer.

Konstruktive Merkmale:

Der Formbereich am Werkzeuganfang verdrängt das Material graduell und formt die Gewindekontur. Im Gegensatz zum Gewindebohrer sind keine scharfen Schneidkanten vorhanden, sondern profilierte Formflanken.

Die Führungspartie stabilisiert das Werkzeug im bereits geformten Gewinde und stellt die Maßhaltigkeit sicher.

Spezielle Oberflächenbehandlung: Gewindeformer erhalten meist spezielle Oberflächenbehandlungen wie Nitrieren oder TiN-Beschichtung zur Reduzierung der Reibung und Erhöhung der Standzeit.

- Werkstoffanforderungen und Grenzen

- Geeignete Werkstoffe:
Gewindeformer eignen sich besonders für duktile Werkstoffe mit ausreichender Verformbarkeit:

  • Baustähle bis etwa 800 N/mm² Zugfestigkeit

  • Automatenstähle

  • Nichteisen-Metalle wie Aluminium, Messing, Kupfer

  • Weichere rostfreie Stähle (austenitische Qualitäten)   

- Ungeeignete Werkstoffe

  • Spröde Werkstoffe (Guss, gehärtete Stähle) 
  • Sehr harte Legierungen 
  • Werkstoffe mit hoher Kaltverfestigung 
  • Titan und dessen Legierungen 

- Kernlochberechnung

Die Kernlochgröße ist beim Gewindeformen kritischer als beim Gewindebohren, da das verdrängte Material den Gewindekern bilden muss.

Berechnungsformel: 

Kernlochdurchmesser = Nenndurchmesser - Steigung + Werkstoffkonstante

Die Werkstoffkonstante berücksichtigt die spezifischen Verformungseigenschaften und liegt typischerweise zwischen 0,1-0,3 mm.

3 - Direkter Vergleich: Gewindebohrer vs. Gewindeformer

- Prozessqualität und Gewindelängsfestigkeit

  • Oberflächenqualität:
    Gewindeformer erzeugen durch die plastische Verformung eine glatte, verfestigte Oberfläche ohne Bearbeitungsriefen. Die Oberflächenrauheit liegt typischerweise bei Ra 0,8-1,6 μm. Gewindebohrer hinterlassen dagegen Schnittspuren mit Rauheiten von Ra 1,6-6,3 μm.
  • Gewindelängsfestigkeit:
    Durch die Kaltverfestigung bei der Umformung erreichen geformte Gewinde eine um 15-30% höhere Ausreißfestigkeit gegenüber geschnittenen Gewinden. Der kontinuierliche Faserverlauf ohne Unterbrechung trägt zusätzlich zur höheren Festigkeit bei.
  • Maßhaltigkeit:
    Beide Verfahren erreichen bei korrekter Anwendung die Toleranzklasse 6H. Gewindeformer neigen jedoch bei ungeeigneten Werkstoffen zu Maßabweichungen durch Rückfederung.

Wirtschaftliche Aspekte:

  • Werkzeugkosten:
    Gewindeformer sind in der Anschaffung etwa 20-50% teurer als vergleichbare Gewindebohrer. Diese Mehrkosten amortisieren sich jedoch durch die höhere Standzeit.
  • Standzeit:
    Gewindeformer erreichen typischerweise 3-10fach höhere Standzeiten als Gewindebohrer, da keine Verschleißvorgänge an Schneidkanten auftreten. Hauptverschleißursache ist die abrasive Beanspruchung der Formflanken.
  • Bearbeitungsgeschwindigkeit:
    Gewindeformer können mit 2-3fach höheren Geschwindigkeiten betrieben werden, da keine Späne entstehen und die Wärmeentwicklung geringer ist.
  • Nebenzeiten:
    Das Entfallen der Spanentsorgung und der reduzierten Kühlschmierstoffbedarf verringern die Nebenzeiten erheblich.

- Prozesssicherheit und Handhabung

  • Bruchgefahr:
    Gewindeformer sind weniger bruchgefährdet, da sie bei Überlastung eher plastisch verformen als spröde brechen. Gewindebohrer können bei falschen Parametern oder Späneproblematik spontan versagen.
  • Kühlschmierung:
    Gewindeformen benötigt nur minimale Kühlschmierung, hauptsächlich zur Schmierung. Gewindebohren erfordert intensive Kühlschmierung zur Span- und Wärmeabfuhr.
  • Späneproblematik:
    Die spanlose Bearbeitung eliminiert Probleme mit Spanstau und Spanbruch vollständig. Dies ist besonders bei Grundlöchern und automatisierten Prozessen von Vorteil.

- Anwendungsgrenzen und Restriktionen

  • Werkstoffspektrum:
    Gewindebohrer haben ein deutlich breiteres Anwendungsspektrum und können praktisch alle metallischen Werkstoffe bearbeiten. Gewindeformer sind auf duktile Werkstoffe beschränkt.
  • Gewindegrößen:
    Beide Verfahren decken den Bereich M3-M20 gut ab. Bei sehr kleinen Gewinden (< M3) sind Gewindebohrer stabiler, bei großen Gewinden (> M20) werden die Umformkräfte beim Formen kritisch.
  • Werkstückgeometrie:
    Gewindeformen ist nur in stabilen, dickwandigen Bauteilen möglich. Dünnwandige Teile können durch die Umformkräfte verformt oder beschädigt werden.


- Entscheidungskriterien für die Verfahrenswahl

- Werkstoffbasierte Auswahl

- Für Gewindebohrer sprechen:

  • Harte Werkstoffe (> 250 HB) 
  • Spröde Materialien (Guss, gehärtete Stähle) 
  • Schwer verformbare Legierungen 
  • Unbekannte Werkstoffeigenschaften 

Für Gewindeformer sprechen:

  • Weiche bis mittelharte Stähle (< 800 N/mm²) 
  • Automatenstähle 
  • Nichteisen-Metalle 
  • Hohe Duktilität gefordert 

Qualitätsanforderungen

Hohe Oberflächenqualität: Gewindeformer bevorzugt Maximale Festigkeit: Gewindeformer bevorzugt Enge Toleranzen bei schwierigen Werkstoffen: Gewindebohrer bevorzugt

Wirtschaftliche Überlegungen

Große Stückzahlen: Gewindeformer meist wirtschaftlicher Kleine Serien: Gewindebohrer flexibler Vollautomatisierte Fertigung: Gewindeformer wegen fehlender Späne bevorzugt

Moderne Entwicklungen und Sonderformen

Hybrid-Werkzeuge

Moderne Entwicklungen kombinieren beide Verfahren: Gewindebohrer mit partiellen Formzonen oder Gewindeformer mit Schneidkanten für schwierige Werkstoffe.

Beschichtungstechnologien

Sowohl Gewindebohrer als auch Gewindeformer profitieren von modernen PVD-Beschichtungen:

  • TiN für Universalanwendungen 
  • TiAlN für höhere Temperaturen 
  • DLC (Diamond Like Carbon) für Aluminium 

Spezialkonstruktionen

Spiralgewindebohrer: Verbesserte Spanabfuhr durch spiralförmige Nuten Innenkühlung: Gezielte Kühlschmierungszuführung direkt an die Schneidkanten Variable Steigung: Optimierte Kraftverteilung über die Werkzeuglänge

Fazit und Empfehlungen

Die Wahl zwischen Gewindebohrer und Gewindeformer sollte auf einer ganzheitlichen Betrachtung basieren, die Werkstoff, Qualitätsanforderungen, Stückzahl und wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt.

Gewindebohrer bleiben die erste Wahl für:

  • Universelle Anwendungen mit wechselnden Werkstoffen 
  • Harte und spröde Materialien 
  • Kleine Serien und Prototypenfertigung 
  • Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten 

Gewindeformer sind optimal für:

  • Große Serien in geeigneten Werkstoffen 
  • Höchste Qualitätsanforderungen an Festigkeit und Oberfläche 
  • Vollautomatisierte Fertigungslinien 
  • Kostenoptimierte Serienfertigung 

Die kontinuierliche Weiterentwicklung beider Technologien erweitert stetig ihre Anwendungsbereiche und verbessert die erreichbare Qualität und Wirtschaftlichkeit. Eine fundierte Kenntnis beider Verfahren ermöglicht die optimale Auswahl für jede spezifische Anwendung.

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